Interview mit Dr. Catherine Senécal: „Zeigen Sie Ihrem Kind: Du bist gut so, wie du bist!“

„Das beste Mittel gegen Essstörungen ist die Vorbeugung: Eltern sollten ihre Kinder dabei unterstützen, den eigenen Körper wertzuschätzen und seine Leistungsfähigkeit zu bewundern, anstatt ihn zu einem reinen Objekt zu degradieren. Wenn die Mütter selbst ständig Diäten machen und über überschüssige Pfunde oder Pölsterchen jammern, ist das natürlich kontraproduktiv …“ Dr. Catherine Senécal, kanadische Psychologin und Autorin des Ratgebers „Du bist gut so, wie du bist!“, hat durch ihre praktische Erfahrung in der Beratung von Menschen mit Essstörungen wichtige Strategien entwickelt, um Magersucht, Bulimie & Co. sicher vorzubeugen bzw. rechtzeitig zu erkennen und gegenzusteuern.

Sie engagieren sich seit mehr als zehn Jahren ehrenamtlich für eine Beratungsstelle für Menschen mit Magersucht oder Bulimie, und eines Ihrer Spezialgebiete als Verhaltenspsychologin ist die Behandlung von Essstörungen aller Art. Was hat Sie zu Ihrem neuen Buch motiviert?

Dr. Senécal: Es gab Eltern und Erzieher, die mich täglich fragten, wie man vermeidet, dass die Kinder in ihrem Umfeld Essstörungen entwickeln. Prävention scheint das beste Mittel zu sein, wenn man in sozialer Hinsicht im großen Rahmen etwas bewirken will.

Laut aktuellen Statistiken aus Kanada sind fast die Hälfte aller Jungen und Mädchen unzufrieden mit dem eigenen Körper, etwa zehn Prozent haben bereits eine Diät gemacht und ein Drittel davon sogar willentlich ein Erbrechen herbeigeführt, Abführmittel oder Appetitzügler eingenommen. Sind diese Zahlen auch auf andere Länder übertragbar? Was sind die Ursachen für die negative Körperwahrnehmung unter Jugendlichen?

Dr. Senécal: Es steht fest, dass das Verständnis des Körpers als Objekt eine Rolle spielt bei der Unzufriedenheit vieler Jugendlicher mit dem eigenen Körper. Damit es zur Ausbildung einer Essstörung wie Magersucht oder Bulimie kommen kann, müssen aber auch gewisse genetische, biologische und psychische Voraussetzungen erfüllt sein. Auch die Medien haben einen Einfluss, da hier ein Schlankheits- und Schönheitsideal verbreitet wird, das unerreichbar ist. Unterstützen wir Künstler, die für ein viel alternativeres Körperbild stehen, bieten wir kommenden Generationen auch ein viel größeres Spektrum an Vorbildern.

Wissenschaftliche Studien haben festgestellt, dass ein enger Zusammenhang zwischen einer negativen Körperwahrnehmung und der Entwicklung einer Essstörung besteht. Warum fällt es so schwer, Kindern und Jugendlichen eine positive Beziehung zu ihrem Erscheinungsbild und zu ihrer Ernährung zu vermitteln?

Dr. Senécal: Das ist etwas sehr Komplexes. Aber ich möchte eine mögliche Antwort geben, indem ich darauf hinweise, dass wir dem, was unser Körper leisten kann, mehr Bedeutung beimessen sollten, also seiner Funktionalität, nicht seinem Aussehen. Außerdem sollten wir verbreitete Stereotype meiden, indem wir unseren Kindern neutrales Spielzeug schenken und sie neutral kleiden.

Wie können betroffene Kinder und Jugendliche oder ihre Eltern und andere Verantwortliche frühzeitig erkennen, ob sie an einer Essstörung leiden? Welche Erscheinungsformen und Besonderheiten gibt es dabei zu beachten?

Dr. Senécal: Wer könnte gefährdet sein? Ein Kind, das auf Distanz zu seinen Freunden geht, das seinen Kleidungsstil ändert, das Rezepte sammelt, das viel Zeit in den sozialen Netzwerken verbringt, sehr reizbar ist, versucht, beim Kochen die Kontrolle zu übernehmen, das Sportarten betreibt, bei denen die Leistung vom Gewicht oder vom Aussehen abhängig ist, usw.

Die gesundheitlichen Folgen von Essstörungen sind gravierend und können sogar bis zum Tod führen. Welche medizinischen und psychologischen Therapiekonzepte bieten hier die besten Heilungschancen?

Dr. Senécal: Die Kombination aus Ärzten, Psychologen und Ernährungsberatern ist ideal. Der zurzeit verwendete therapeutische Ansatz zeigt eine beachtliche Wirkung bei der Metaanalyse und der kognitiven Verhaltenstherapie bzw. der Familientherapie nach Maudsley. Bei der kognitiven Verhaltenstherapie handelt es sich um einen therapeutischen Ansatz, der es erlaubt, unrealistische Gedanken zu verändern, wodurch man dann in der Lage ist, emotional angemessen auf reale Situationen reagieren zu können. Die Therapie nach Maudsley folgt einem systemischen Ansatz. Es handelt sich um eine Familientherapie, bei der alle Familienmitglieder zur Genesung der Person beitragen, die an einer Essstörung leidet.

Der sogenannte „Figurwahn“ kann Ihrer Ansicht nach am besten innerhalb der Familie bekämpft werden. Welche konkreten Techniken geben Sie Eltern an die Hand, um ihren Kindern zu helfen, eine Essstörung zu verhindern oder zu überwinden?

Dr. Senécal: Für jede Altersgruppe gibt es geeignete Ansätze. Als Erstes sollte man jedoch unabhängig vom Alter immer davon absehen, den Körper seines Kindes zu kommentieren oder zu kritisieren. Das wird wirklich in jeder Studie erwähnt! Kinder lernen durch Nachahmung. Als Erwachsener sollte man es deshalb ebenfalls vermeiden, den eigenen Körper oder den anderer zu kommentieren oder zu kritisieren.


Buch-Tipp:
Du bist gut so, wie du bist! So befreien Sie Ihr Kind vom Figurwahn. Mankau Verlag 2019, Klappenbroschur, 13,5 x 21,5 cm, 222 Seiten, € 16,90 (D) / € 17,40 (A), ISBN 978-3-86374-544-8.

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