„Alkohol wird erst bedenklich, wenn man ihn mit schlechtem Gewissen trinkt!“ Interview mit dem Diplom-Pädagogen und Bestseller-Autor Andreas Winter

„Wir sollten aufhören, Alkoholismus als eine Krankheit zu bezeichnen und zu betrachten. Ich halte es für wesentlich zielführender, einen Menschen in seinem Verhalten zu respektieren und davon auszugehen, dass es für jedes Verhalten einen nachvollziehbaren Grund gibt. Wer den wahren Grund für sein Trinken reflektiert und erkannt hat, wird wieder frei in seiner Entscheidung.“ Andreas Winter, Leiter eines der größten Coaching-Institute Deutschlands und Autor des Ratgebers und HörbuchsDie Sache mit dem Alkohol“, will seinen Lesern und Leserinnen mit seinem bewährten tiefenpsychologischen Ansatz helfen, den „Geist in der Flasche“ zu bezwingen und wieder souveräne Genusstrinkende zu werden.

Ihr neues Buch greift ein brisantes Thema auf, das Sie bereits vor einigen Jahren im Rahmen Ihrer „Psychocoach“-Reihe behandelt haben. Was hat Sie motiviert, die „Sache mit dem Alkohol“ erneut in Angriff zu nehmen?

Andreas Winter: Brisant ist das Thema eigentlich nur, da in unserer Gesellschaft in Bezug auf Alkoholabhängigkeit eine Geisteshaltung vorherrscht, die totale Hilflosigkeit widerspiegelt, und diese auch noch vehement verteidigt wird. Kaum jemand scheint den aktuellen Stand der Forschung mit in die Suchttherapie einzubeziehen. Vor Jahren schon haben Menschen wie Professor Dr. Körkel beschrieben, wie man den Alkoholkonsum aus der Gefahrenzone bringen kann. Doch das Thema Alkohol, seine Folgen und deren bedauerlicherweise oft nicht zielführende Behandlung hat nichts an Aktualität verloren. Im Gegenteil, es haben sich lediglich die Schwerpunkte des Themas verschoben. Zwar ging der klassische Alkoholismus mit morgendlichem Zittern und Spiegeltrinken zahlenmäßig etwas zurück, aber dafür verbreitet sich die Angst vor Alkohol bei bislang gesundheitlich unauffälligen Normalkonsumenten. Menschen, die Mengen trinken, die vor Jahren noch als völlig unbedenklich galten, wie etwa zwei Glas Wein zum Essen oder zwei Flaschen Bier am Abend, halten sich heute teilweise selbst für suchtgefährdet.

Das liegt daran, dass diese Menschen meist Augenmerk auf die getrunkene Menge und die Regelmäßigkeit legen, nicht aber auf den Grund des Trinkens. Das wirkliche Problem dabei ist: Wenn man Alkohol mit einem schlechten Gewissen trinkt, mit unterschwelligen Schuld- oder Schamgefühlen, dann wird er aufgrund der Stresshormone ganz anders verstoffwechselt und dadurch erst bedenklich.

Ein weiterer wichtiger Punkt, weswegen ich das Thema noch einmal aufgreife, ist, dass die klinische Behandlung von Alkoholikern offenbar keine wesentlichen Fortschritte macht. Es scheint sich immer mehr im Bewusstsein der Menschen zu verankern, dass nur totale Abstinenz das Heilmittel gegen Sucht sei. Damit verkennt man, was eine Sucht genau ist, wie sie zustande kommt und wie sie beseitigt werden kann. Ich möchte mit meinem Buch den Menschen, die Alkohol trinken, helfen, die Gefahr abzuwenden, um den gesundheitlichen und sozialen Druck aus den Familien zu nehmen. 

Weit über zehn Millionen Menschen in Deutschland haben nach offiziellen Schätzungen ernsthafte Alkoholprobleme, darunter rund drei Millionen Alkoholkranke, sieben Millionen beratungs- oder behandlungsbedürftige Trinker und jedes Jahr etwa 20.000 Alkohol-Tote. Dennoch behaupten Sie, dass Alkoholismus keine „Sucht“ im eigentlichen Sinne sei. Was meinen Sie damit?

Andreas Winter: Natürlich kann man an den Folgen von übermäßigem Alkoholkonsum krank werden oder gar versterben. Doch dazu bedarf es nicht unbedingt einer Sucht, sondern nur einer chronischen Überdosierung. Eine solche Überdosierung, die zum Tod führt, kann man sogar mit Wasser erzeugen; der medizinische Fachbegriff dafür ist Hyponatriämie. Der Wirkmechanismus einer Sucht sorgt dafür, dass man kaum noch Kontrolle über den Konsum hat. Ebenso macht sich diese bei abrupter Abstinenz mit körperlichen Entzugserscheinungen bemerkbar. Eine Sucht ist definitiv nicht mit einem Gespräch zu beseitigen ­– eine Konditionierung, also eine automatische körperliche Reaktion auf erlernte Reize, schon. Die jahrzehntelange Erfahrung mit Klienten zeigt, dass das Verhaltensmuster des chronischen Alkoholmissbrauchs mit Analysieren und Reflektieren der Ursachen für das Trinken zu verändern ist. Und genau das ist der Bereich, in dem ich als Geisteswissenschaftler seit über drei Jahrzehnten zu Hause bin: die im Unterbewusstsein verankerten automatischen Programme. Ich kann verstehen, dass Menschen, die nicht mit geisteswissenschaftlichen Themen vertraut sind, Konditionierungen oft für eine Sucht halten. Gerade vor dem Hintergrund, dass man es umgangssprachlich auch so nennt: Internetsucht, Nikotinsucht, Sexsucht, Spielsucht, Esssucht oder eben Alkoholsucht – das sind meist keine körperlichen Abhängigkeiten, sondern Konditionierungen, welche man mit Disziplin zur Abstinenz und Beruhigungsmitteln zwar eine Weile lang in Schach halten, aber nicht auflösen kann. Wenn jedoch eine Reiz-Reaktions-Verknüpfung aufgelöst ist, dann kann der Betreffende danach wieder trinken, spielen oder rauchen wie jeder andere auch – ohne rückfällig zu werden. Deshalb halte ich es für nicht vertretbar, in solchen Zusammenhängen von einer Sucht zu sprechen, denn die erforderlichen Hilfsmaßnahmen sind ganz andere als bei einer körperlichen Sucht, wie wir sie etwa bei Heroin oder Opium kennen.

Der Lebensmittelchemiker und Wissenschaftsjournalist Udo Pollmer schreibt im Vorwort zu Ihrem Buch, dass derjenige, der fürchtet, in eine Sucht abzugleiten, keine Ermahnungen, sondern Hilfe braucht. An wen wenden Sie sich mit Ihrem Ansatz, und worin unterscheidet sich dieser von anderen Therapieangeboten?

Andreas Winter: Mein Ansatz richtet sich in erster Linie an Ärzte, Therapeuten und ebenso an besorgte Alkoholkonsumenten, also an jene, die nach Wegen suchen, den „Geist aus der Flasche“ zu entmystifizieren. Im Grunde sollte allerdings jeder, der in einer Gesellschaft lebt, in der Alkohol eine Kulturdroge ist, darüber Bescheid wissen, wie man damit gefahrlos umgehen und die echten Warnanzeichen richtig deuten kann. Meine Vorgehensweise gegen chronische Alkoholüberdosierung bzw. der Angst davor ist folgende: Zunächst wird dem Betreffenden reflektiert, warum er trinkt. Dieser Grund kann von ihm dann auf emotionaler Ebene neu bewertet werden. Dadurch ist er fortan mit ein wenig Aufklärung über die tatsächliche Wirkweise von Alkohol frei in seiner Entscheidung. Alle anderen mir bekannten Therapieangebote scheitern oft daran, dass der Betroffene zunächst einmal für krank erklärt wird – was er nicht ist, denn gegen eine Krankheit kann ein befallener Körper sich entweder wehren und wieder davon genesen, sofern sie nicht zum Tode führt. Als Nächstes wird vom Betroffenen meist strikte Abstinenz eingefordert, welche aber genauso wenig hilft, wie wenn man einen Computervirus durch das Abschalten des Computers beseitigen will. Durch das Vermeiden von Konfrontation, Kontamination oder Konsumkontinuität erfolgt keine Heilung, sondern nur Stagnation. 

Den Alkohol einfach aus dem Körper wegzulassen, kann zwar alkoholbedingte Organschädigungen verhindern, befreit einen Menschen aber nicht von der Ursache übermäßigen Trinkens. Wie kommt man dieser auf den Grund, und wie kehrt man zum Genuss zurück?

Andreas Winter: Wie bereits erwähnt sollten wir zunächst aufhören, Alkoholismus als Krankheit zu bezeichnen, denn der Gedanke an eine Krankheit impliziert, die würde „einfach so“ kommen und wäre mit ärztlicher Behandlung wieder zu beseitigen. Ich halte es für wesentlich zielführender, einen Menschen in seinem Verhalten zu respektieren und davon auszugehen, dass es für jedes Verhalten einen nachvollziehbaren Grund gibt. Fällt die Vorverurteilung „krank“ oder „unverständlich“ weg, ist der Weg für die Ursachenanalyse geebnet. Diese ist meist gar nicht so schwierig, wenn man weiß, welche Wirkung beim Alkohol die eigentlich beabsichtigte ist: Alkohol unterdrückt die Wahrnehmung von Fremderwartungen. Ein Betroffener trinkt meist, um sich besser zu fühlen. Das bedeutet, wir müssen zunächst erst einmal herausfinden, warum er sich nicht gut fühlt, durch wessen Erwartungen er sich bedroht fühlt. Da sind wir bei der Ursachenanalyse schon gleich bei den üblichen Verdächtigen: die Lieferanten des Wertesystems, meist die eigenen Eltern. Die Mustervertreter wie etwa ältere Geschwister, Kindergärtner, Lehrer, Polizisten und andere empfundene Autoritätspersonen verstärken mit ihren Erwartungen weiter das schlechte Gewissen. Daraus folgt ein Gefühl von Unzulänglichkeit, Überforderung und Ablehnung. Das wiederum widerspricht aber den emotionalen Bedürfnissen des Menschen. Ein möglicher Ausweg ist eben das Betäuben der Wahrnehmungsfähigkeit für Erwartungen. Da das allerdings das Problem nicht löst, sondern nur zurückstellt und das schlechte Gewissen fürs Trinken mit seinem Schamgefühl in die gleiche Kerbe schlägt, ist der Teufelskreis vorprogrammiert. Die Lösung wäre also nicht Abstinenz, sondern das Gefühl von Mündigkeit und Unabhängigkeit von fremden, erworbenen Werten. Wenn ein Mensch sich dann seiner Souveränität bewusst ist, trinkt er in der Regel nicht mehr, damit es ihm besser geht, sondern höchstens, wenn es ihm gut geht. Damit ist der Kreis durchbrochen und der Konsum kann mühelos kontrolliert werden, sprich, man trinkt nicht mehr weiter, sobald die Wirkung zu stören beginnt. 

Der Konsum von Alkohol ist tief in unserer kulturellen Identität verankert und hat eine starke symbolische Komponente. Welche unterschiedlichen „Typen“ von Trinkern gibt es, und was haben diese gemeinsam?

Andreas Winter: Es gibt in der Medizin die Einteilung in verschiedene Trinkertypen, vom Alpha-Typ bis zum Epsilon-Typ, also vom Gelegenheitstrinker über den Quartalsäufer bis zum Spiegeltrinker, der mit Alkohol nur noch körperliche Probleme wie etwa Muskelkrämpfe vermeiden möchte. Die haben allesamt eines gemeinsam: Sie werden pathologisiert. Man tut so, als würde mit diesen Menschen etwas nicht stimmen. Das wäre so, als würde man einem Menschen sagen, nur weil er mehrmals täglich isst, sei er krank, weil ja bei Appetit meist kein Nährstoffmangel vorliegt, sondern ein emotionales Bedürfnis oder soziale Gründe. Es gibt viele sehr hartnäckige Glaubenssätze in unserer Gesellschaft, über die noch nicht so häufig nachgedacht wurde. Aber die Menschen, die von den Auswirkungen dieser Glaubenssätze betroffen sind, haben sicherlich ein großes Interesse daran, nicht pathologisiert zu werden. Doch was macht man mit denen? Man sagt ihnen „Geh zum Arzt, du bist krank.“ Um die Frage kurz und knapp zu beantworten: Das Einzige, was die Trinker-Typen wirklich miteinander gemeinsam haben, ist, dass sie trinken. 

Laut aktuellen Medienberichten liegt Alkohol bei jungen Menschen gar nicht mehr so sehr im Trend, angeblich sei sogar „Nüchtern […] das neue Cool“ (SZ vom 20.01.2022). Können Sie diese Entwicklung auch in ihrer Praxis beobachten? Und was tun Jugendliche stattdessen, um ihre Machtlosigkeitserfahrungen zu bewältigen?

Andreas Winter: Zum einen bin ich sicher, dass man für jede Befragung und Statistik jedes gewünschte Ergebnis bekommen kann, wenn man genau darauf achtet, wen man wann und wie fragt. Es gab in der Geschichte Zeiten, wo es für Kinder und Jugendliche völlig absurd war, ihre Nüchternheit zu betonen, weil Alkohol ohnehin keine Rolle spielte. Wenn also die Süddeutsche Zeitung nun verkündet, Nüchtern sei das neue Cool und dann im gleichen Atemzug Werbeanzeigen für Milch, Kaffee und Mineralwasser macht, dann ist das schon etwas zum Augenzwinkern. Allerdings muss man auch wissen, dass die kulturellen Werte der Generationen sich wie Wellenbewegungen abwechseln. Der Verachtung für die Elterndroge Alkohol wird mit anderen Konsumwaren Ausdruck verliehen. Ob mit Taurinbrause oder Exstasy-Pillen, ob mit veganer Ernährung und Quinoa-Smoothies – Hauptsache, man ist anders. Ich würde sagen, „Anti“ ist das neue wie alte Cool – nur dass es eben gar nicht so cool ist, sondern eine Trotzhaltung gegen elterliche Werte. Im Klartext: Ob man sich mit Alkohol benebelt und dadurch dem Druck entzieht oder mit Trotz, Widerstand und Abwehr auf Erwartungen und fremde Werte reagiert – das ist einerlei und beides nicht zielführend. In meinem Buch beschreibe ich, wie man mit den Möglichkeiten und der Reife eines Erwachsenen mit Grenzen und Wertekollisionen konfliktfrei umgehen kann. 

Man könnte vereinfacht sagen, dass die Abhängigkeit von Alkohol nicht so sehr von der Menge, sondern vielmehr vom damit verbundenen Gefühl beeinflusst wird. Welche Konsequenzen sollte das Ihrer Meinung nach für Suchttherapie und Drogenpolitik haben?

Andreas Winter: Die Konsequenzen für die Drogenpolitik sind ganz klar: Drogen jeglicher Art sollten nicht länger eine Verlockung für Experimentierfreudige und auch kein Rettungsanker für Überforderte und realitätsflüchtige Menschen sein. Wenn man Menschen wirklich dazu verhelfen will, aus der chronischen Drogenüberdosierung herauszukommen, brauchen wir Ursachenanalyse und ein beim Betroffenen automatisch verankertes Lösungsverhalten. Der Auslöser zum Trinken muss reflektiert werden und mit einem emotionalen „Update“ versehen werden. Mit der Reife eines Erwachsenen fallen bestimmte Reaktionen einfach nicht mehr ins Verhaltensrepertoire. Der Mensch ist dann wieder entscheidungsfrei. Einen Nachteil hat die Beendigung des Dauerpatientenverhältnis allerdings: Denn wer aus den alten Mustern raus ist, der wird nicht mehr rückfällig und ist somit natürlich für die Alkoholindustrie auch kein „Class A Customer“ mehr, der exzessmäßig Alkohol kauft, sondern nur noch dann, wenn er mal ein Gläschen trinken möchte.

Ich möchte abschließend noch anmerken, dass mein Buch kein Selbsthilfe-Ratgeber ist, der einem sagt, „wie es geht“, sondern ein Aufklärungsbuch, das beschreibt, wie es mit tiefenpsychologischer Analyse und einem emotionalen Umdeuten der Trigger funktionieren kann. Es mag sehr reflektierten Menschen gelingen, mit den dargebrachten Informationen ihre Problematik zu lösen, aber es ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Sie wird wesentlich leichter mit der Hörbuchversion, denn darin findet der Hörer auch zwei von mir eingesprochene Coachingtracks, die ihm zur Selbstreflexion verhelfen. Mir ist wichtig, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass jemand, der seinen wahren Grund zum Trinken reflektiert und erkannt hat, wieder zum Genießer werden kann.

Buch-Tipp:
Andreas Winter: Die Sache mit dem Alkohol. Genuss ohne Abhängigkeit ist möglich: Warum wir trinken und wie wir unsere Gewohnheiten ändern können. Mankau Verlag, 1. Aufl. September 2022, Klappenbroschur, 13,5 x 21,5 cm cm, 190 Seiten, 18,00 Euro (D) / 18,50 Euro (A), ISBN 978-3-86374-676-6

Hörbuch-Tipp:
Andreas Winter: Die Sache mit dem Alkohol. Hörbuch mit Audio-Coaching. Mankau Verlag, 1. Aufl. September 2022, 1 MP3-CD im Jewelcase, Gesamtlaufzeit ca. 323 Min., 8-seitiges Booklet, 18,00 Euro UVP (D/A), ISBN 978-3-86374-679-7

Link-Empfehlungen:
Mehr Informationen zum Buch „Die Sache mit dem Alkohol“
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