Interview mit Diplom-Pädagoge Andreas Winter: „Zu viel Erziehung schadet!“

„Wenn Eltern selbst nicht als nachahmenswertes Vorbild taugen, so müssen wir uns nicht wundern, wenn Kinder orientierungslos bleiben. Eltern werden auf Schritt und Tritt von ihren Kindern beobachtet, welche deren Verhalten bis ins Grundschulalter kopieren. Wollen Eltern, dass ihre Kinder selbstsicher, souverän und konfliktfähig werden, so sollten sie ihnen genau das auch vorleben – und nicht einfach nur einfordern!“ Im Interview spricht der renommierte Diplom-Pädagoge Andreas Winter, Autor des Taschenbuchs „Zu viel Erziehung schadet!“, über frühkindliche Erfahrungen und deren Einfluss auf die spätere Lebensqualität und erklärt, wie wir ein menschlicheres, natürlicheres und gelasseneres Eltern-Kind-Verhältnis entwickeln können.

Ihr bewährter Ratgeber, der nun erstmals als Taschenbuch erhältlich ist, will ausdrücklich kein Erziehungsratgeber oder pädagogischer Leitfaden sein. Was ist das Ziel des Buches, und an wen wendet es sich?

Winter: Dieses Buch richtet sich an Eltern und Menschen, die Eltern werden wollen. Zusätzlich spreche ich auch das ehemalige Kind in uns allen an, welches einst elterliche Erziehung genossen oder vielleicht darunter gelitten hat. Ziel meines Buches ist nicht, den Eltern vorzuschreiben, was sie mit ihren Kindern tun oder lassen sollen – solche Ratgeber-Konzepte halte ich für wenig aussichtsreich. „Zu viel Erziehung schadet!“ will dagegen aufzeigen, welchen Einfluss unterbewusstes Verhalten der Eltern auf das Verhalten und die Entwicklung ihrer Kinder hat. Je bewusster uns der Einfluss ist, den unsere Eltern auf uns hatten und den wir auf unsere Kinder haben, desto größer ist die Chance, erziehungsbedingtes Verhalten zu vermeiden, unter dem wir alle leiden.

Angesichts steigender Jugendkriminalität, sinkenden Bildungsniveaus und eines oft behaupteten Werteverfalls klingen Titel und These des Buches paradox, für manche gar gefährlich. Wie begegnen Sie Eltern oder Lehrern, die Ihre ungewöhnliche Botschaft provoziert?

Winter: Nun, ich sage zwar: „Zu viel Erziehung schadet!“, begründe das aber damit, dass es kaum Eltern gibt, die wirklich wissen, wie man richtig erzieht, geschweige denn dies auch noch umsetzen können. Ich zeige auf, dass die Probleme der Gesellschaft – wie Kriminalität, chronische Krankheiten, Arbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch und Partnerschaftsprobleme – gerade durch einen viel zu großen Einfluss der Eltern zustande kommen. Wenn Eltern selbst nicht als nachahmenswertes Vorbild taugen, so müssen wir uns nicht wundern, wenn Kinder orientierungslos bleiben. Erziehung wird in vielen Gesellschaften mit Tradierung von Normen und Werten gleichgesetzt, die mit hohem Erwartungsdruck den Kindern praktisch aufgezwungen werden. Viele dieser Wertvorstellungen sind aber für die heutigen Generationen in dieser Welt nicht mehr kompatibel. „Bloß nicht auffallen“ oder aber „die Ellenbogen einsetzen“ beispielsweise sind extreme Verhaltensweisen, mit denen heutzutage kein Mensch mehr dauerhaft erfolgreich und zufrieden wird und bleibt.

Ein Ziel Ihres Ansatzes ist es, fatale „Spätfolgen“ der eigenen Erziehung rückgängig zu machen, um als Mutter oder Vater ein echtes Vorbild sein zu können. Wie kann das gelingen?

Winter: Dazu muss ich etwas ausholen: Ich gehe davon aus, dass ein Mensch zunächst mit einem gesunden Selbstwertgefühl zur Welt kommt. Ein Kind entwickelt sich und seine Fähigkeiten ohne böse Absicht, Arglist oder Häme. Erst durch Einschränkungen, wie etwa Verkennungen seiner Absicht, Missverständnisse, Bevormundung, Erwartungsdruck und Enttäuschungen, beginnt es, sein Verhalten reaktiv zu entwickeln. Die Folge sind Trotz, Einschüchterung, Gewaltbereitschaft, psychosomatische Symptome, Tollpatschigkeit und andere Versuche, hemmende Einflüsse zu verhindern. Ist die Ursache der Verhaltens- und Empfindensstörung aufgedeckt und emotional verarbeitet, so verändert sich dadurch auch das Gefühl in ähnlichen späteren Situationen. Hierdurch bringt sich der betroffene „Übererzogene“ wieder auf seinen ursprünglichen Kurs zurück. So mache ich mit tiefenpsychologischen Methoden „rückgängig“, was die eigenen Eltern ihren nun erwachsenen Sprösslingen versehentlich angetan haben; „Reframing“ – abgeleitet vom englischen „frame“ = Rahmen – nennt man diese Technik, mit deren Hilfe uralte Gefühlserinnerungen unschädlich gemacht und durch eine andere Sichtweise mit einem „neuen Rahmen“ versehen werden können. Wenn diese Erziehungsfolgen aufgelöst sind, die Menschen von ihren unterbewussten Verhaltensmustern befreit sind und das Selbstvertrauen wieder repariert ist, verändert sich schlagartig, innerhalb weniger Wochen, das gesamte Leben zum Positiven. Eine große Hilfe ist dabei auch das Audio-Coaching zu „Zu viel Erziehung schadet!“, das als mp3-Download erhältlich ist.

Sie unterscheiden zwischen dem frei variablen Charakter und einer nicht veränderbaren, sondern nur entwicklungsfähigen Grundpersönlichkeit. Welche Konsequenzen hat dies für die Erziehung?

Winter: Die größten, die man sich vorstellen kann! Daher riskiere ich auch meinen wissenschaftlichen Ruf und begebe mich in einen Bereich, der bislang so heftig negiert und verpönt ist, dass es einen glatten Frevel darstellt, sich als Wissenschaftler damit zu beschäftigen: Die Grundpersönlichkeit scheint tatsächlich – völlig unabhängig von den elterlichen Persönlichkeitsmerkmalen – mit der Zeugung festgelegt zu werden und bestimmt, mit welcher Grundtendenz wir versuchen, uns zu entwickeln, beziehungsweise auf Entfaltungsgrenzen reagieren. Diese Tendenz besteht offenbar, jenseits von Erziehungseinflüssen, bereits im Mutterleib und bleibt ein Leben lang unverändert erhalten. Bei sozialen Konflikten lässt sich dies sehr gut beobachten: So gibt es Menschen, die sich zur Wiederherstellung der Harmonie in ihre Gedankenwelt zurückziehen, andere suchen die sofortige Konfrontation oder arbeiten rein körperlich härter und reagieren sich ab. Wieder andere wechseln den Standpunkt und entschärfen dadurch den Konflikt. Einige versuchen, durch ein Urteil den Konflikt zu beenden, wieder andere drohen, ignorieren den Konflikt oder erfinden eine neue Lösung. Ein Kind, das Konflikte mit Weltflucht auflösen will, wird sich durch ein klärendes Gespräch noch mehr zurückziehen, derweil ein konfrontierendes Kind dieses Gespräch als Kräftevergleich bräuchte und nicht etwa ein „stilles Aussitzen“ der Situation. Diese Tendenzen sind allesamt längst bekannt und für niemanden ein Geheimnis; sie finden sich etwa in den bekannten „Tierkreiszeichen“ der abendländischen Denkweise. Problematisch ist dabei, dass diese Systematik der Grundpersönlichkeiten bislang als „Einschränkung der Entscheidungsfreiheit des Menschen“ gesehen und daher als „unwissenschaftlich“ abgelehnt wurde. Der Charakter des Menschen hingegen ist meiner Ansicht nach veränderbar. Hier finden wir alle Eigenschaften und Verhaltensweisen, die gelernt oder anerzogen werden können, und hier ist auch das Feld, um das es in meinem Buch geht: Was kommt, kann auch wieder gehen. Unerwünschtes Sozialverhalten, Krankheit oder Depression sind veränderbar.

Sie vertreten in Ihren Büchern die Auffassung, dass der Einfluss der Erziehung bereits im Mutterleib beginnt – so könnten etwa pränatale Eingriffe für das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) verantwortlich sein. Wie hat man sich das vorzustellen, und welche Therapie ist hier möglich?

Winter: Meiner Ansicht nach steckt hinter dem so genannten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) im eigentlichen Sinne gar keine medikamentös zu behandelnde Krankheit, sondern der logisch nachvollziehbare Versuch, mit einer erhöhten Leistungsbereitschaft den Endorphinspiegel („Glückshormone“) im Blut zu erhalten. Das heißt, es besteht hier sogar eine Ähnlichkeit zur Heroinsucht – mit dem Unterschied, dass sich der Betroffene nicht einfach eine entsprechende Dosis der Substanz verabreichen kann, sondern durch sein Verhalten dafür sorgen muss, dass die körpereigene Droge produziert wird. Dahinter stecken einige neurobiologische und psychologische Voraussetzungen: Wir wissen, dass sich die Entwicklung der Intelligenz bereits im Mutterleib vollzieht. Je mehr interessante und fördernde Einflüsse der Embryo erlebt, desto höher ist die Anzahl seiner neuronalen Verschaltungen. Dazu gehören insbesondere positive Gefühle, also die Wirkung von Endorphinen, den so genannten „Glückshormonen“. Diese Hormone sind lebensnotwendig, können aber bei Überdosierung tödlich sein, weil sie die Atmung lähmen; der Körper reguliert seine eigene Produktion bei deutlicher Überversorgung von außen, wie es bei einer besonders euphorischen oder erwartungsvollen Mutter durch die Nabelschnur geschieht, herunter. Das Kind wird also schon vor seiner Geburt von Morphinvorstufen abhängig! ADHS ist damit eine absolut logische und nachvollziehbare Reaktion auf das plötzliche Nachlassen erlebter frühkindlicher Intelligenzförderung. Wer seine Kinder bereits durch übertriebene vorgeburtliche Interaktion, wie etwa mit stetiger Musikberieselung oder extremer Gymnastik, zu fördern versucht, muss sich nicht wundern, wenn diese weiterhin das gleiche Maß an Aufmerksamkeit und Anerkennung einfordern. Das allzu leichtfertig verabreichte Medikament Ritalin lindert hier zwar möglicherweise die Symptome, doch erhöht es auch die Bereitschaft zum späteren Drogenkonsum. Sinnvoller ist hier ein Förderprogramm, das auf die gesteigerten Bedürfnisse des Kindes eingeht. Wenn es sich respektierter, ernster genommen und auf gleicher Augenhöhe beachtet fühlt, braucht es um seine Position als intelligenter und verständiger Mensch nicht zu kämpfen. Massive Erfolgserlebnisse verhindern ADHS, so glaube ich. Das erfordert keine Therapie, sondern einfach nur Elternreife.

Was verstehen Sie eigentlich unter „Erziehung“ und welche Voraussetzungen muss ein „Erzieher“ – Eltern, Lehrer, Betreuer etc. – mitbringen, um erfolgreich zu sein?

Winter: Ich verstehe unter Erziehung das bewusste und unbewusste Einwirken auf das Verhalten und auf den Charakter eines Kindes. Genau genommen entscheidet ein Kind selbst, wie es sich von Ihnen erziehen lässt. Es orientiert sich dabei an Ihrer Handlungsfähigkeit, also nur daran, ob Ihr Verhalten zum Durchsetzen Ihrer Absicht taugt oder nicht. Beispielsweise kann depressives Verhalten eines Elternteils durchaus ein Kind zum Nachahmen einladen, wenn die Depression eingesetzt wird, um Rücksichtnahme und Entgegenkommen zu erpressen. Ein Kind nimmt außerdem erzieherische Absicht nur an, wenn diese als zur Verwirklichung förderlich empfunden wird. Erziehung durch Einsicht nennen das die Pädagogen. Das heißt, all das, womit ein Kind glaubt, im Leben durchsetzungsfähig zu sein, wird ebenso angenommen.

Was für die eine Generation als gut und richtig galt, ist möglicherweise für deren Kinder entweder gar nicht mehr relevant oder verkehrt sich sogar ins Gegenteil. Gibt es dennoch so etwas wie „bleibende Werte“, die es sich weiter zu vermitteln lohnt?

Winter: Sicherlich! Allein in den heiligen Schriften der Weltreligionen finden wir einige davon. Sich selbst lieben, einander helfen und achten, aber auch verantwortungsvoll mit dem Planeten umgehen – diese Grundsätze sind alle hinlänglich bekannt und werden auch immer währen. Doch ganz ehrlich: Ist es je wirklich gelungen, diese Werte und Erziehungsziele konsequent zu vermitteln? Ich schmeiße mit meinen Forderungen ja gar nicht alles über den Haufen, sondern sage nur: „Erziehe deine Kinder nicht länger mit den ‚Altlasten‘, die schon bei dir selbst nicht funktioniert haben, um ein zufriedenes und erfülltes Leben zu leben. Gib nicht weiter, worunter du selbst gelitten hast!“

Die in Ihrem Buch vorgestellte neue Art der Erziehung versteht sich als „stressfreies Begleiten und Fördern“. Welche Ziele beinhaltet das und wo liegt der Unterschied zu früheren Erziehungsmodellen?

Winter: Da Kinder sich von den Eltern alles abschauen, was sie für förderlich halten, um sich durchzusetzen oder Einschränkung zu vermeiden, ist es wichtig, den Kindern ein möglichst authentisches Bild von einem zufriedenen Erwachsenen vorzuleben. Das Kind beobachtet genau, wie Eltern mit Stress und Konflikten umgehen, und zieht daraus – ganz unterbewusst – seine Lehren. Eltern sollten sich einerseits als nicht so wichtig für die Grundelemente des Zusammenlebens sehen – den vielgesagten Satz: „Das macht man nicht!“ kann man getrost aus dem Repertoire streichen, denn Kinder finden im Laufe der Zeit selbst heraus, was gesellschaftlich zulässig ist und was nicht. Andererseits sollten Eltern wissen, dass sie auf Schritt und Tritt von ihren Kindern beobachtet werden und diese ihr Verhalten bis ins Grundschulalter kopieren. Wollen Eltern, dass ihre Kinder selbstsicher, souverän und konfliktfähig werden, so sollten sie ihnen genau das auch vorleben – und nicht einfach nur einfordern! Ich sage deutlich, dass man sich wirklich überlegen sollte, ob man überhaupt bereit ist, eine solch unglaubliche Verantwortung zu tragen, die Elternsein bedeutet: Jeder Jetpilot trägt weniger Risiko und ist besser auf seine Aufgabe vorbereitet, als Eltern es in Bezug auf Kinder sind. Frühere Erziehungsmodelle waren vor allem dadurch gekennzeichnet, bewusst auf die Kinder einzuwirken – das gelingt leider nur dann, wenn die Kontrolle des eigenen Verhaltens niemals nachlässt. Es sind nämlich gerade die unkontrollierten Verhaltensweisen der Eltern, die sich ständig wiederholen und daher von den Kindern als viel authentischer und daher nachahmenswerter empfunden werden.

 

Buch-Tipp:
Andreas Winter: Zu viel Erziehung schadet! Wie Sie Ihre Kinder stressfrei begleiten. Mankau Verlag 2018, Taschenbuch, 12 x 19 cm, 206 S., ISBN 978-3-86374-489-2, 9,95 Euro (D) / 10,30 Euro (A).

Link-Empfehlungen:
Mehr Informationen zum Ratgeber "Zu viel Erziehung schadet!"
Zur Leseprobe im PDF-Format
Mehr über den Autor Andreas Winter
Zum Internetforum mit Andreas Winter


Passende Artikel
Verfügbar