Interview mit der Ökotrophologin Dr. Isabelle Huot und der Psychologin Dr. Catherine Senécal: „Wir sollten unsere Emotionen achten, statt sie wegzu(fr)essen!“

„Wir alle gönnen uns bei Stress oder Langeweile gern mal ein leckeres Häppchen, ohne Hunger zu haben – das ist auch überhaupt kein Problem. Anders sieht es aus bei regelmäßigen Fressanfällen, die mit Schuldgefühlen einhergehen. Diese sind ein Zeichen, dass Emotionen verdrängt bzw. durch zwanghaftes Essen niedergerungen werden, und können zu einer krankhaften Essstörung auswachsen. Wer ein paar wichtige Prinzipien für eine bewusste und intuitive Ernährung beachtet, kann jedoch wieder lernen, Hunger- und Sättigungssignale des eigenen Körpers wahrzunehmen, und ein gesundes Verhältnis zum Essen entwickeln.“ Die Ernährungswissenschaftlerin Dr. Isabelle Huot und die Psychologin Dr. Catherine Senécal, Autorinnen des Ratgebers  „Wenn alles doof ist, hilft nur noch Schokolade? Schluss mit Heißhunger und Frustessen!“, haben einfache Strategien und Übungen entwickelt, um den Kreislauf aus Heißhunger und Fressattacken erfolgreich zu durchbrechen und Genuss wie Freude beim Essen zurückzugewinnen. 

Fast jeder ertappt sich irgendwann dabei, unter Stress Süßkram, Fastfood und Knabberzeug in sich hineinzufuttern, ohne überhaupt Hunger zu haben. Aus welchem Grund tun wir das, und woran merkt man, dass es sich um eine Essstörung handelt?

Isabelle Huot: Wenn man Stress hat oder mit Emotionen kämpft, greift man verstärkt auf kohlenhydrat- und fetthaltige Nahrung zurück. Der Verzehr von Kohlenhydraten, wie Naschereien, Knabbergebäck usw., lässt den Serotoninspiegel ansteigen. Serotonin ist als Neurotransmitter verantwortlich für das Wohlfühlen. Diese Art Nahrung besänftigt, das hat in stressigen Zeiten eine beruhigende Wirkung. Durch zucker- und fetthaltige Nahrung werden auch die Hirnareale angeregt, die für den Genuss zuständig sind (die Belohnungszentren). Deshalb verlangt es uns so nach dieser Art Essen. Wenn man gelegentlich Phasen hat, in denen man zu viel isst, ohne wirklich Hunger zu haben, reicht das nicht, um offiziell eine Essstörung zu diagnostizieren. Wiederholen sich diese Phasen aber regelmäßig und gehen mit Schuldgefühlen einher, ist es ratsam, sich an einen Spezialisten zu wenden, etwa an einen Ernährungswissenschaftler oder Psychologen.

Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit der Behandlung von Essstörungen und begleiten gemeinsam Betroffene, um sie bei ihren Bemühungen und Fortschritten zu unterstützen. Wie sieht Ihre Zusammenarbeit konkret aus, und wie kam es zu diesem Buchprojekt?

Catherine Senécal: Wir haben beide einen Doktortitel in unserer Fachrichtung, Isabelle als Ökotrophologin, ich als Psychologin bzw. Neuropsychologin. Da wir immer nach Verbesserungen streben, wollten wir, dass Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, direkt einen Spezialisten aufzusuchen, sich anderweitig Hilfe holen können. Indem wir unser Wissen und unsere Arbeit zusammengeführt haben, ist der Plan zu diesem Buch entstanden!

Es gibt viele Menschen, die in der Nahrung Trost finden und so auf verschiedene Emotionen reagieren, mit denen sie anderweitig schlecht fertigwerden. Der Umgang mit solchen Gefühlen ist Ihrer Meinung nach ein Schlüsselfaktor, um die Kontrolle über seine Ernährung wiederzuerlangen. Was muss man tun, um wieder ein gesundes Verhältnis zum Essen aufzubauen?

Catherine Senécal: Wenn eine normale Ernährung (drei Mahlzeiten und drei Zwischenmahlzeiten im Abstand von je drei Stunden) über mehrere Monate angewendet wird, nimmt man auch die fundamentalen Signale wie das Hunger- und Sättigungsgefühl und die komplexeren Signale wie die Emotionen wieder wahr. Werden Letztere nicht niedergerungen, indem man zwanghaft isst, helfen sie uns, eine schwierige Situation zu verstehen, die wir vielleicht durchgemacht haben. Und die Emotionen dienen dazu, die Energie dafür bereitzustellen, mit den anderen Personen zu kommunizieren. Treten Zwänge und Beschränkungen erst einmal zutage, sind wir auch wieder in der Lage, auf unsere Emotionen zu hören!

Heutzutage scheint es sehr schwer zu sein, eine positive Einstellung zum Essen zu entwickeln, wenn Nahrungsmittel nach moralischen Kriterien wie gut und schlecht beurteilt werden oder bestimmte Schönheitsideale schon junge Menschen unter Druck setzen. Was können Eltern tun, um ihre Kinder vor Essstörungen zu bewahren?

Catherine Senécal: Eltern sollten Kommentare zu Gewicht und Körper ihrer Kinder vermeiden. In verschiedenen Studien werden solche Kommentare als bedeutsamer Risikofaktor für das Kind angesehen. Und in Anbetracht der Tatsache, dass Kinder viel durch Nachahmung lernen, ist es genauso wichtig, auch den eigenen Körper oder das Aussehen von Menschen in unserem Umfeld nicht zu kommentieren. Wir können die Verbindung mit geliebten und geschätzten Menschen halten, indem wir über unsere Emotionen sprechen. Und reden wir lieber darüber, was unser Körper alles kann, statt über sein Aussehen. Nicht zuletzt sollte man wissen, dass laut unabhängigen Studien noch nicht eine Diät  mittel- und langfristig Wirkung gezeigt hat. Wir bieten unserem Kind also die besten Chancen auf geistige und körperliche Gesundheit, wenn alle Familienmitglieder auf Diäten verzichten und eine normale und abwechslungsreiche Ernährung befolgen.

In Ihrem Buch erklären Sie unter anderem, wie wichtig es ist, Genuss und Freude am Essen wiederzugewinnen. In diesem Zusammenhang sprechen Sie auch vom Konzept der „intuitiven Ernährung“. Was hat es damit auf sich?

Isabelle Huot: Wenn man sich bewusst ernährt, also die Prinzipien der intuitiven Ernährung befolgt, folgt man einem Ansatz, der auf die physiologischen Signale achtet, also auf das Hunger- und das Sättigungsgefühl, und den Umgang mit den Emotionen berücksichtigt. Dieser Ansatz urteilt nicht, sondern erlaubt uns zu verstehen, warum man isst, ohne wirklich hungrig zu sein, und warum man weiter isst, obwohl man satt ist. Sich intuitiv und bewusst zu ernähren bedeutet auch, sich Zeit zu nehmen, um sich an den Tisch zu setzen und eine Mahlzeit zu genießen. Dabei achtet man auf alle Sinneseindrücke, die das Essen mit sich bringt. Konsistenz, Geruch und Aussehen des Essens sowie der Geschmack werden wahrgenommen, damit jeder Bissen bewusst verzehrt wird. Bei diesem Ansatz braucht es kein Kalorienzählen und kein Verbot einzelner Lebensmittel. Man kann von allem essen, solange man dabei den Prinzipien der intuitiven Ernährung folgt.

Abgesehen von einer Umstellung des Essverhaltens und der Veränderung automatischer Gedanken, können auch Veränderungen der Lebensgewohnheiten unsere Beziehung zum Essen verbessern. Welche Maßnahmen gehören beispielsweise dazu?

Isabelle Huot: Die verschiedenen Lebensbereiche sollen so gewichtet sein, dass genügend Zeit ist für die Familie, die eigenen Bedürfnisse, die Arbeit und die Freizeit. Auf sich zu achten bedeutet auch, genug zu schlafen (zwischen sieben und neun Stunden pro Nacht). Studien haben gezeigt, dass Schlafmangel den Hormonspiegel beeinflusst, der über Hunger und Sättigung entscheidet. Das Verlangen nach Süßem ist stärker, wenn man nicht ausreichend geschlafen hat. Körperliche Betätigung, sei es Yoga, Schwimmen, Joggen oder jeder andere Sport, den man gerne betreibt, fördert ebenfalls die Ausschüttung von Glückshormonen, die dem Organismus guttun. Eine ausgeglichene Lebensweise, eine gesunde Ernährung, genug Schlaf und Bewegung, all das verhilft uns auch zu einer besseren Beziehung zum Essen.

An wen kann man sich wenden, wenn man feststellt, dass das Essverhalten Anzeichen einer echten Erkrankung aufweist?

Catherine Senécal: Ob in Europa oder Amerika, eine Behandlung durch ein Team aus Experten ist immer vorzuziehen. Idealerweise gehören zum behandelnden Trio ein Arzt bzw. eine Ärztin, ein/e Psychologe/-in und ein/e Ernährungsberater/-in, die sich auf diese Fachrichtung spezialisiert haben. Falls etwaige Familienmitglieder wäre wünschenswert, dass sie in der einen oder anderen Form Unterstützung erhalten, um dem von der Essstörung Betroffenen angemessen beistehen zu können. Glücklicherweise gibt es im deutschsprachigen Raum viele Anlaufstellen und Hilfsangebote bei Essstörungen.

Buch-Tipp:
Dr. Isabelle Huot und Dr. Catherine Senécal: Wenn alles doof ist, hilft nur noch Schokolade? Schluss mit Heißhunger und Frustessen! Mankau Verlag, 1. Auflage September 2020, Klappenbroschur, 13,5 x 21,5 cm, 223 Seiten, 14,95 Euro (D), ISBN 978-3-86374-566-0

Link-Empfehlungen:

Mehr Informationen zum Ratgeber-Buch „Wenn alles doof ist, hilft nur noch Schokolade? Schluss mit Heißhunger und Frustessen!“
Zur Leseprobe des Buches „Wenn alles doof ist, hilft nur noch Schokolade?“
Mehr über die Autorinnen Dr. Isabelle Hout und Dr. Catherine Senécal


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